Verkehrsrecht – Ordnungswidrigkeiten: Keine Verpflichtung zur Bildung einer Rettungsgasse auf autobahnähnlich ausgebauter innerörtlicher Straße, BayObLG, Beschluss v. 26.09.2023 – 201 ObOWi 971/23

Sachverhalt:

Der Betroffene wurde vom Amtsgericht Augsburg am 25. Mai 2023 wegen einer Ordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße von 240 Euro verurteilt und es wurde ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Ihm wurde vorgeworfen, am 16. Januar 2023 auf einer autobahnähnlich ausgebauten innerörtlichen Straße keine Rettungsgasse für ein Polizeifahrzeug gebildet zu haben. Bei der betroffenen Straße handelte es sich um eine Bundesstraße im Stadtgebiet von Augsburg. Das Amtsgericht ging davon aus, dass die Verpflichtung zur Bildung einer Rettungsgasse auch für innerörtliche Straßen gilt, wenn diese autobahnähnlich ausgebaut sind.

Der Betroffene legte gegen dieses Urteil Rechtsbeschwerde ein. Er machte geltend, dass innerorts keine Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse besteht und dass er dennoch alles Notwendige unternommen habe, um den Einsatzkräften die Durchfahrt zu ermöglichen. Die Verteidigung führte an, dass der Betroffene, obwohl er auf einer innerörtlichen Straße unterwegs war, keine Rettungsgasse bilden musste, da die entsprechende gesetzliche Vorschrift diese Verpflichtung nur für Autobahnen und Außerortsstraßen vorsieht.

Die Generalstaatsanwaltschaft München unterstützte die Rechtsbeschwerde des Betroffenen und beantragte ebenfalls, das Urteil des Amtsgerichts Augsburg aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Würdigung:

Das Oberlandesgericht (OLG) überprüfte die Sachlage und beurteilte die Auslegung der relevanten Vorschriften, insbesondere § 11 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Der Wortlaut dieser Vorschrift legt eindeutig fest, dass die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse nur auf Autobahnen sowie auf Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen in einer Richtung gilt. Diese Norm zielt darauf ab, bei Unfällen auf Autobahnen und Außerortsstraßen Rettungskräften, wie Polizei- und Einsatzfahrzeugen, eine schnelle Durchfahrt zu ermöglichen.

Das OLG stellte fest, dass die vom Amtsgericht vorgenommene Auslegung der Vorschrift des § 11 Abs. 2 StVO unzulässig war. Zwar kann eine Autobahn auch innerstädtisch verlaufen, jedoch gilt dies nur dann, wenn diese Strecke durch das Verkehrszeichen „Autobahn“ (Zeichen 330.1 StVO) entsprechend gekennzeichnet ist. Im vorliegenden Fall wurde jedoch festgestellt, dass der Betroffene auf einer innerörtlichen Bundesstraße unterwegs war, die zwar autobahnähnlich ausgebaut war, jedoch nicht den Anforderungen einer Autobahn oder einer Außerortsstraße im Sinne des § 11 Abs. 2 StVO entsprach. Somit lag kein Verstoß gegen die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse vor, da diese innerorts nicht gilt.

Das Gericht führte weiter aus, dass auch der Sinn und Zweck der Norm des § 11 Abs. 2 StVO einer Ausdehnung der Rettungsgassenpflicht auf innerörtliche Straßen widersprechen. Der Zweck der Vorschrift liegt darin, auf Autobahnen und Außerortsstraßen die Einsatzkräfte schnell an den Unfallort zu bringen, wo oftmals keine ausreichenden Seitenstreifen vorhanden sind oder diese für Einsatzfahrzeuge zu schmal sind. Innerorts hingegen sei die Situation eine andere, da dort meist ausreichend Platz vorhanden ist, um durch das Fahren an den rechten Straßenrand den Einsatzfahrzeugen Platz zu schaffen. Eine allgemeine Verpflichtung zur Bildung einer Rettungsgasse innerorts würde den Zweck der Vorschrift überschreiten und sei nicht durch den Gesetzgeber vorgesehen.

Das Oberlandesgericht hob das Urteil des Amtsgerichts auf, da dieses die Grenzen der zulässigen Auslegung des § 11 Abs. 2 StVO überschritten hatte. Eine weitergehende Auslegung des Wortlauts oder eine analoge Anwendung der Vorschrift auf innerörtliche Straßen sei nicht zulässig, da dies gegen das Analogieverbot verstoßen würde, welches in Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes und § 3 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) verankert ist.

Gleichzeitig wies das Gericht jedoch darauf hin, dass der Betroffene möglicherweise eine andere Ordnungswidrigkeit begangen haben könnte. Es wurde festgestellt, dass der Betroffene ein Polizeifahrzeug aufgrund eines Verkehrsunfalls für mindestens fünf Minuten an der Weiterfahrt gehindert hatte. Daher müsse in der neuen Verhandlung geprüft werden, ob ein Verstoß gegen § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO vorlag. Diese Vorschrift regelt, dass bei Blaulicht und Einsatzhorn eines Einsatzfahrzeugs „sofort freie Bahn“ zu schaffen ist. Das Amtsgericht muss in der neuen Verhandlung klären, ob das Polizeifahrzeug tatsächlich mit eingeschaltetem Blaulicht und Einsatzhorn unterwegs war und ob der Betroffene sein Fahrzeug so hätte platzieren können, dass eine sofortige Durchfahrt möglich gewesen wäre.

Fazit:

Das Oberlandesgericht entschied, dass die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse innerorts nicht besteht, selbst wenn die Straße autobahnähnlich ausgebaut ist. Die Verurteilung des Betroffenen wegen eines Verstoßes gegen § 11 Abs. 2 StVO war daher unzulässig, und das Urteil des Amtsgerichts wurde aufgehoben. Allerdings muss das Amtsgericht in einer neuen Verhandlung prüfen, ob der Betroffene möglicherweise gegen die Vorschrift zur Freihaltung der Fahrbahn für Einsatzfahrzeuge verstoßen hat.

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